Stefan Wilke

Stefan Wilke ist Geschäftsführer der QuikStep UG. Sie bietet Dienstleistungen in Form von Beratungen, Schulungen sowie Workshops und Coaching an. Der Fokus liegt im Themenfeld soziale Kompetenz und Unterstützung von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt. https://www.quikstep.eu

Was bedeutet für Sie „Inklusives Leiten“?

Das Thema ist komplex und lässt sich nicht auf eine kurze Aussage reduzieren. Da spielen verschiedene Faktoren eine Rolle:

Zuerst sollten Personen, die inklusiv leiten, ihre Stärken und Schwächen kennen, sich selbst gut einschätzen können und authentisch verhalten. Vorgespielte Stärke oder überspielte Schwäche haben nichts mit „Inclusive Leadership“ zu tun. Und sie sollten bereit sein, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Inklusives Leiten bedeutet auch, offen und nahbar zu sein für die Personen, mit denen sie arbeiten, sie nach ihren Stärken einzusetzen und zu fördern, auch wenn sie uns als LeiterIn durch unsere Förderung überflügeln. Meine Grundhaltung ist, dass jeder Mensch Talente hat. Die Herausforderung für den/die LeiterIn ist, diese Talente an der richtigen Stelle einzusetzen und hierfür die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.

Die wahre Stärke von inklusiven LeiterInnen zeigt sich dort, wo sie an das Wohl aller Beteiligten denken: an ihres, das der anderen Personen bzw. aller Beteiligten und an das der Organisation oder des Unternehmens. Und letztendlich müssen Taten folgen – und zwar nicht im Alleingang, sondern möglichst mit der Beteiligung aller Personen und Stakeholder. Denn gerade das macht den Unterschied, dass nicht nur die „Starken“ das Sagen haben, sondern dass die inklusiven LeiterInnen den Raum für alle schaffen, sich einzubringen.

Wie setzen Sie inklusives Leiten in Ihrem Unternehmen um?

Ich habe selbst eine Sehbehinderung und in meiner Berufspraxis verschiedene Erfahrungen gemacht, die nichts mit inklusiver Leitung zu tun hatten. Dabei ist es gar nicht so schwer, die einfachen Prinzipien des inklusiven Leitens anzuwenden – es bedarf nur etwas Mut und einer klaren Haltung.

Aufgrund meiner eigenen Geschichte, aber auch meiner Erfahrungen, kam für mich nie etwas anderes in Frage als inklusive Leitung. Ein Prinzip, das wir bei Quikstep kontinuierlich anwenden, ist unsere Konzentration auf die Stärken – die Stärken jedes Einzelnen, die des Teams und unseres Unternehmens. Vielleicht habe ich da einen gewissen Vorsprung. Ich als Führungskraft mit Handicap kenne meine Schwächen, aber auch meine Stärken sehr gut. Und ich habe eine besondere Sensibilität für die Schwächen meiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Das erlaubt mir, sie dort abzuholen, wo sie stehen und Arbeitsprozesse so zu gestalten, dass jeder gut arbeiten kann – selbstverständlich immer mit dem Blick auf eine optimale Wirtschaftlichkeit der Prozesse. Die Kunst besteht also darin, beides im Blick zu behalten: die Mitarbeiterin bzw. den Mitarbeiter mit ihren jeweiligen Stärken und die Wirtschaftlichkeit.

Können Sie uns ein Beispiel nennen, durch das inklusive Leitung für uns besser verständlich wird?

Ich möchte keine konkrete Situation beschreiben, sondern auf unsere Haltung eingehen, mit der wir bei Quikstep leiten und miteinander arbeiten.

Zuvor nehme ich Sie auf eine kurze Reise in meine Vergangenheit mit, als ich noch angestellt tätig war: Viele Arbeitgeber haben von Zeit zu Zeit die Aufgabe, ihren Inklusionsansatz oder die sozialen Komponenten ihrer Organisation zu kommunizieren, z. B. bei Audits oder in der Öffentlichkeitsarbeit. Ich habe des Öfteren die Erfahrung gemacht, dass dann ich als Kollege mit Behinderung „vorgezeigt“ wurde um zu belegen, dass unser Unternehmen vorbildlich handelt. Das ist zum Teil vielleicht ein notwendiger Akt, aber es ist weit entfernt von inklusiver Führung.

Menschen mit Behinderung werden im Arbeitsleben oft als Problem angesehen. Bei Quikstep drehen wir den Spieß um: Wir konzentrieren uns auf das Potenzial jedes Einzelnen und fördern die Stärken. Wenn bspw. ein Sinnesorgan wegfällt, fangen automatisch die anderen Sinne an besser zu arbeiten. Für Visualität benötigt unser Gehirn ca. 33% seiner Kapazität, ein Drittel unserer Gehirnleistung ist also mit dem Sehen beschäftigt. Wenn dies wegfällt, entsteht viel Platz für die anderen Sinne. Übrigens: Das Gegenteil können wir derzeit in der Gesellschaft feststellen. Wenn man trotz guter Sehkraft ständig auf sein Smartphone guckt, verkümmern die Sinne auch (lacht). Generell ist aber festzuhalten, dass die Sinne, die Menschen mit Behinderung besitzen, deutlich geschärft sind. Da wir im Arbeitsleben immer mehr Spezialisten brauchen, kann es ein klarer Vorteil sein. Dieses Wissen machen wir uns bei Quikstep zu eigen und handeln danach.

Wie sieht das bei Ihnen in der Praxis aus?

Also ganz praktisch: Einen Mitarbeiter wie mich mit wenig Sehkraft zum Kopieren zu schicken oder mit dem Erstellen einer Präsentation zu beauftragen, wäre verschenkte Zeit. Mich aber als wirtschaftlich und kreativ denkenden Menschen für die Entwicklung neuer Produkte einzusetzen, ist sehr sinnvoll. Inclusive Leadership bedeutet für uns, dafür offen zu sein, die Talente der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern. Sie sollen im Rahmen ihrer Aufgabe das machen, was sie gut können. Davon profitieren die Mitarbeitenden und das Unternehmen.

Welche Auswirkungen hat inklusives Leiten?

Inklusives Leiten trägt zu einem wirklichen Miteinander bei – und dies zum Nutzen aller. Der Beitrag Vieler ist gefragt, es muss ein offenes System geschaffen werden, das Partizipation auch von vermeintlich „Schwächeren” ermöglicht: Der Mensch und sein Beitrag stehen im Mittelpunkt, ebenso wie die Entwicklung bzw. Weiterentwicklung des Ganzen. Nicht ausschließlich „Befehle empfangen und Aufträge ausführen” sind das Motto, sondern „Mitgestalten und Verantwortung übernehmen”.

Kann inklusives Leiten zu wirtschaftlichen Vorteilen führen?

Ja, in jedem Fall. Wir waren z. B. mit unserem Unternehmen auf der Suche nach einem barrierefreien Warenwirtschaftssystem, ein Produkt, das Inklusion in unserer Wirtschaft und Gesellschaft fördern würde. Eine vorhandene Open Source Lösung für ein Warenwirtschaftssystem konnten wir entsprechend dem Kundenbedarf modifizieren und auf dem Markt etablieren. Damit haben wir eine Marktlücke entdeckt und mit einem innovativen Produkt schließen können.

Welchen Rat geben Sie denjenigen, die inklusive Leitung praktizieren oder verstärkt praktizieren möchten?

Seien Sie mutig und probieren Sie inklusive Leitung aus. Lassen Sie sich nicht von Rückschlägen oder Gegnern von Ihrem Vorhaben abbringen. Gegner gibt es immer, aber der Erfolg in Ihrem Unternehmen wird Ihnen letztendlich Recht geben. Die Teilnahme an einem Workshop zu inklusivem Leiten ist hilfreich, ich selbst habe an einem teilgenommen. Es hilft, sich selbst einzuschätzen, sich zu positionieren und von anderen zu lernen.