Christine Weissenberg

Christine Weissenberg, Psychiaterin und Psychotherapeutin, mehrjährige ärztliche Tätigkeit in der Schweiz in Psychiatrischen Kliniken und in freier Praxis, zunächst als Assistenzärztin. Ca. 10 Jahre in Leitungsfunktion als Oberärztin. Seit der Pensionierung aktiv in der Flüchtlingsarbeit im Waldviertel tätig.

Zitat: „Nicht die Ausbildung hat geholfen inklusiv zu sein, letztendlich musst Du es wollen.“

Was bedeutet für Sie „Inklusives Leiten“?

Bei Inklusiver Leitung sieht man sich nicht als „Nabel der Welt“. Es geht um das Einnehmen einer offenen Haltung. Um die Förderung einer Kommunikation, die anderen Raum lässt alles sagen zu dürfen und ihre Ideen aufzufangen. Nicht jede Idee muss Gestalt annehmen, aber sie muss angehört werden und es empfiehlt sich zu begründen, warum sie zumindest im Moment nicht umgesetzt werden kann. Jedenfalls ist ein zentraler Gedanke dabei die Kompetenzen anderer zu würdigen und zu nutzen.

Es geht im Weiteren darum sich bewusst zu machen, wie es um die eigene Selbstreflexion steht, wie schnell man oft Mutmaßungen anstellt und zu wenig prüft, ob eine rasch entstehende Vorstellung im Kopf wirklich stimmt. Wie schnell auch Wertungen vergeben werden. Es braucht viel Flexibilität, Freude und Mut am Ungewöhnlichen sowie Unbekannten. So entsteht Neues.

Bei Menschen mit Einschränkungen bzw. Krankheiten geht es darum Begeisterung zu wecken, selbst etwas in die Hand zu nehmen und aktiv zu werden und mit ihren Möglichkeiten ihr Leben zu gestalten. Sie so oft als möglich bewusst entscheiden lassen, auch bei Banalitäten und in Situationen, wo ihr Entscheidungsspielraum prinzipiell klein ist, z.B. im Rahmen einer Zwangseinweisung auf eine Psychiatrische Station.

Bei Flüchtlingen bedeutet dies Interesse für ihre uns oft fremde Kultur zu haben, viele Fotos von Familienmitgliedern anzusehen, ihre Musik zu hören, ihre Geschichten anzuhören.

Generell Empathie zeigen. Sich am Wachsen anderer zu erfreuen.

Wie haben Sie inklusives Leiten in Ihrer täglichen Praxis umgesetzt?

Als ich zu leiten begann, war ich anfänglich mit Widerständen von Seiten der Mitarbeiter konfrontiert. Sie hatten mehrfach erfahren, dass Vorgesetzte ihre Wünsche und Bedürfnisse abfragten, aber kaum darauf eingingen. Solche Erfahrungen kenne ich selbst auch. Diese Art von Mitarbeiterbefragungen erweckt nur den Schein von Inklusion und hinterlässt ein schales Gefühl und Frustration bei den Betroffenen bzw. Resistenzen gegen neue Versuche, sie dafür zu gewinnen, ihre persönlichen Ideen einzubringen.

In diesem Sinn habe ich zu meinen Mitarbeitern gesagt „Testet mich“ – ich halte ein, was ich verspreche und verspreche nur das, was ich auch halten kann. Ihr könnt mit allen Vorschlägen zu mir kommen und ich möchte eure Ideen wirklich hören“. Diese Devise habe ich stets durchgezogen, was nicht immer einfach war. Wenn sich diese Widerstände bei Mitarbeitern zeigen muss man dies als Führungskraft aushalten können und Versprechungen immer einlösen. Nicht alle meine Chefs oder Kollegen waren mit meiner Vorgangsweise einverstanden, da ich einiges nicht an die große Glocke gehängt und die Kreativität aller genutzt habe, um ans Ziel zu gelangen. Durch Beharrlichkeit, Eingehen von Risiken und Begeisterungsfähigkeit kam Vieles zustande. So konnten wir z.B. einen Rollstuhleingang installieren, obwohl man mir versicherte, dass bereits alles vergeblich versucht worden war und ich keine Chance hätte, v.a. wegen des Denkmalschutzes, aber auch wegen der Finanzen. Unbeirrt und unverbraucht versuchte ich es erneut mit einem Round-Table Gespräch unter Einbezug aller Beteiligten (unseres Teams, der Haustechniker, Leute vom Denkmalschutz bis hin zu Vertretern der Behindertenkonferenz). In kürzester Zeit hatten wir eine Lösung, bei der ein ganz einfacher und kostengünstiger Lift umgesetzt werden konnte.

Welche Auswirkungen hat inklusives Leiten?

Voraussetzung für eine inklusive Führung ist eine flache Hierarchie, da die Mitarbeiter näher an der Führungskraft und die Kommunikationswege kürzer sind. Durch diese kürzeren Distanzen und das Einbeziehen in Entscheidungen wird die Kreativität gefördert und man steht sich mehr auf Augenhöhe gegenüber. Wenn Mitarbeiter und Patienten die Erfahrung machen, dass ihre Vorschläge aufgenommen werden trauen sie sich zu öffnen und eine Idee führt zur nächsten. Mir war es auch wichtig, dass Therapeuten unterschiedlicher Disziplinen vernetzt arbeiten unter dem Motto meines Chefs: „Ressourcenerweiterung durch Ressourcenverknüpfung“. Deshalb gab es ausgedehnte Rapporte zwischen Psychologen, Physiotherapeuten, der Musiktherapeutin, Reittherapeutin etc.

Kann inklusives Leiten zu wirtschaftlichen Vorteilen führen?

Eine wirklich inklusive Haltung führt zu einer geringeren Mitarbeiterfluktuation. Es ist leichter in Not- und Dürrezeiten Mitarbeiter vorübergehend zu Mehrarbeit zu motivieren. Über viele Jahre hinweg wies unsere Station die beste Patientenzufriedenheit in der Gesamtklinik auf und es gab durchwegs Vollbelegung. Installiert wurde neu eine integrierte Tagesklinik, sowie auch die Behandlung ambulanter Patienten. „Was dient dem Patienten“, war die Grundfrage an die Mitarbeiter. Damals realisierte ich durchaus, dass die Krankenhausstrukturen dabei nicht immer hilfreich waren, in die sich Patienten auch heute noch in der Regel hineinpressen lassen müssen. Dies halte ich für optimierungswürdig. Intensiviert wurde die Frage an die Patienten: „Was glauben Sie, was Ihnen gut täte?“ Sehr oft gab es bei Patienten ein inneres Wissen davon, was sie gerne ausprobieren würden, aber der Verstand verhinderte ab und zu, dem wirklich nachzugehen, z.B. eine Behandlung mit Chinesischer Medizin durchzuführen, ein Medium aufzusuchen etc. Ich beobachtete an mir, dass ich aufgrund meiner schulmedizinischen Sozialisation prinzipiell wenig nach links und rechts schauen durfte. Die Meditationsgruppe war beispielsweise das Äußerste an Spiritualität, was offiziell erlaubt war. Der Einbezug einer Astrologin, die eine Patientin regelmäßig aufsuchte, führte dazu, dass ihre Denkweise kritischer wurde und sie auch für andere Behandlungsmethoden offener wurde. Eine Hypothese aufgrund meiner Praxis ist, dass Patienten, die Vertrauen haben, oftmals früh genug kommen, um von neu aufgetretenen Symptomen zu erzählen. Damit reicht in der Regel eine ambulante Behandlung aus und dies verhindert teure Stationsaufenthalte.

Welchen Rat geben Sie denjenigen, die inklusive Leitung praktizieren oder verstärkt praktizieren möchten?

Wer gerne inklusive führen möchte, dem empfehle ich sich eher klein zu machen und nicht alle Probleme allein lösen zu wollen. Es geht darum anderen die Möglichkeit zum Wachsen zu geben. Immer wieder einmal kurz die Leitung loslassen, ohne den Überblick zu verlieren. Man muss genau hinzuschauen, wie man bisher geführt hat. Ich würde fragen: „In welcher Weise führst Du bisher inklusiv oder eben noch nicht? Welche Ängste kommen auf, wenn Du Dir vorstellst, dass plötzlich alle ihre Ideen und Projekte umsetzen wollen? Kann man dann das Team noch führen? Denken die anderen vielleicht, dass du selber ideenlos wärest? Könnten Konkurrenzen entstehen?“

Man muss sich darauf einlassen können, von eigenen Vorstellungen auch mal abzurücken.

Inklusion habe ich persönlich in Bezug auf die Flüchtlinge als bereichernd erlebt. Trotz ihrer schwierigen Geschichten sind viele von ihnen Herzöffner. Bei einem Arbeitsprojekt für die Gemeinde haben wir z. B. in einer Pause auf offener Straße gelacht und getanzt. Darauf sind auch Einheimische aufmerksam geworden und durch die entspannte Atmosphäre ist es ihnen leichter gefallen, mit uns ins Gespräch zu kommen. Und auch hier heißt es, Kompetenzen der einzelnen Menschen wahrzunehmen und wert zu schätzen – bei Flüchtlingen wie Einheimischen.